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Wie hat sich Indien in den letzten fünf Jahren verändert? In der Neuauflage des Ratgebers „Wirtschaftspartner Indien“ ziehen die Autoren Dr. Johannes Wamser und Peter Sürken Bilanz.

INTERVIEW: Esad Fazlic Local Global

Was hat Sie dazu veranlasst eine zweite Auflage Ihres Indien-Ratgebers zu publizieren?

Wamser: Die Frage ist nach dem Grund für eine Neuauflage ist natürlich berechtigt, sind ja gerade erst einmal vier Jahre vergangen, seit wir an der ersten Auflage gearbeitet haben. Zum einen sieht Indien noch genauso aus, wie vor drei, fünf oder auch fünfzehn Jahren. Das finden Sie bestätigt, wenn Sie beispielsweise Delhi oder Bombay verlassen und einfach mal fünfzig oder hundert Kilometer raus „aufs Land“ fahren. Hier ist von Veränderung und Moderne nicht viel zu spüren, vielmehr finden Sie die klassischen Indienklischees wie Schmutz, Armut oder Rückständigkeit bestätigt.
Betrachten wir jedoch die relevanten Wirtschaftsregionen wird eine beinahe atemberaubende Dynamik erkennbar. Modernste Produktionsbetriebe aber auch Wohngebiete mit gehobenem westlichem Standard wären noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, sind aber heute vorhanden oder werden gerade gebaut.

Das gleiche trifft auch auf die indischen Unternehmen zu. Hat man vor wenigen Jahren noch angenommen, dass die klassischen, extrem hierarchisierten, von der Familie bzw. der Sippe gehaltene Familienunternehmen mit nur einer wirklichen Entscheidungsperson an der Spitze, vorherrschend bleiben würden, stellen wir nun fest, dass wirklich erfolgreiche Unternehmen in Management und Struktur von ihren westlichen Vorbildern kaum noch zu unterscheiden sind.

Und auch wir als Autoren haben wertvolle Erfahrungen sammeln können. In den letzten fünf Jahren haben wir mehr als 50 Indienprojekte deutscher Unternehmen – von Konzernen bis zum inhabergeführten Mittelstand – begleitet. Aufgabenstellungen, wie der Aufbau und die Auflösung von Gesellschaften, Rekrutierung aber auch Entlassung von Managementpersonal, Machbarkeitsstudien und wirtschaftliche Bewertungen von Projekten im indischen Umfeld sowie eine Reihe von Krisenmanagementprojekten haben uns die Probleme, Risiken und Unwägbarkeiten, aber auch die Chancen, die Indien bietet, an eigener Haut erleben lassen. Und diese Erfahrungen wollen wir teilen – nicht aus der sicheren Distanz eines Verbandes oder einer internationalen Beratungsgesellschaft, sondern direkt aus der Praxis.

Spricht man in Indien überhaupt von einer Krise, herrscht dort nicht eine Art „Dauerkrise“ in den meisten Teilen des Landes?
Wamser: Ja, richtig. Wenn Sie ohnehin jeden Tag mit katastrophaler Infrastruktur und extremen sozialen Herausforderungen zu kämpfen haben, geraten Sie vielleicht auch nicht so schnell in Panik. Inder sind daher momentan deutlich optimistischer und lassen sich von der Weltuntergangsstimmung in Europa einfach nicht anstecken.
Wie geht Indien mit der Krise um – und zwar der Krise der Industrie in den USA und der EU?
Wamser: Die Krise ist eigentlich gar nicht wirklich in Indien angekommen. Immer noch 6 bis 7% Wachstum und ein Bankensystem, das kaum von der Finanzkrise betroffen wurde. Wenn man ehrlich ist, muss man sich fragen, ob das Gerede von der „Weltwirtschaftskrise“ überhaupt gerechtfertigt ist, denn eigentlich sind es nur die traditionellen Volkswirtschaften, also die USA, Europa und Japan, die so drastisch betroffen sind. Indien dagegen kaum. Nicht vergessen werden darf auch, dass wir momentan eine Generation in Indien erleben, die jetzt einfach das Wachstum erleben will. Die 25 bis 30jährigen wollen nun auch nicht mehr länger warten, sondern wollen auch Autos fahren und Surround Anlagen zu Hause nutzen. Das ist meines Erachtens mit der Aufbruchstimmung der 50er Jahre in Deutschland zu vergleichen.

Eine neue Mittelklasse war in Indien für lange Zeit Fiktion – ist Sie nach fünf Jahren Wachstum zur Realität geworden?
Wamser: Die Bevölkerung hat sich verändert. Hiermit ist jedoch nicht die Gesamtbevölkerung von mittlerweile rund 1,1 Milliarden Menschen gemeint, sondern die Vertreter der konsumstarken, überwiegend jüngeren und gut ausgebildeten Generation, die man durchaus als neue Mittelklasse bezeichnen kann.
Diese Gruppe tendiert immer stärker zu westlichen Konsum- und Verhaltenspräferenzen. War noch vor wenigen Jahren die vorherrschende Erwartung, dass die indische Kultur westliche Einflüsse weitgehend blockieren, zumindest aber abmildern würde, so stellen wir heute fest, dass diese Annahme nicht mehr zutreffend ist. Diejenigen, die es sich leisten können, tragen mittlerweile genau dieselben „Markenklamotten“, Uhren und sonstige Accessoires wie ihre Pendants in Europa oder den USA. Moderne Designprodukte, wie Apples iPod aber auch hochwertige Küchenmöbel und Haushaltsgeräte aus Deutschland werden nachgefragt – selbst wenn es eine Stange mehr Geld kostet.

Da die indische Bevölkerung in den letzten Jahren ein Bewusstsein für Qualität entwickelt hat, stellt sich die Frage, ob dies mittlerweile auch bei indischen Lieferanten bzw. Produzenten der Fall ist?
Sürken: Im Prinzip ja. Aber die indischen Lieferanten und Unternehmen befinden sich in einem Qualitäts- und Technologiedilemma: Noch vor wenigen Jahren waren sie nicht gezwungen, qualitativ hochwertige Produkte oder Technologie „state of the art“ zu produzieren. Doch das hat sich in den letzten Jahren drastisch geändert und stellt neue Chancen aber auch Anforderungen an die indischen Unternehmen: Das erste Mal in der Geschichte Indiens steht den indischen Unternehmen der Zugang zu internationalen Märkten offen. Das Image Indiens hat sich in den letzten Jahren international verbessert; „Made in India“ ist nicht mehr ein unüberbrückbarer Malus. Damit steigt aber auch der Wettbewerb in Indien, da immer mehr ausländische Unternehmen, die über eindeutig überlegene Technologien und viel besseren Qualitätsstandards verfügen, nach Indien kommen. Viele indische Unternehmen befinden sich jedoch in dem Dilemma, dass sie technologisch und auch von der Industrieerfahrung her noch nicht auf Weltniveau angekommen sind.
Daher sind bereits heute zahlreiche indische Unternehmen auf ausländische Kooperationspartner angewiesen. Für viele indische Unternehmen wird eine solche Kooperation sogar überlebenswichtig werden, da man ansonsten ohne den erhofften technologischen Quantensprung früher oder später vom Markt verschwinden wird.

Welche aktuellen Chancen ergeben sich für die deutsche bzw. europäische Industrie auf dem indischen Markt? In welchen Bereichen wird man es mittel- bis langfristig mit einer gestärkten heimischen Konkurrenz zu tun bekommen?
Sürken: Die Frage ist eigentlich recht einfach zu beantworten: Indiens Markt funktioniert genauso wie der Rest der Welt! Wenn Sie also ein Nischenprodukt haben, mit dem Sie überall führend auf der Welt sind, dann werden Sie eine vergleichbare Marktposition auch in Indien erreichen. Wenn Sie der Technologieführer sind, so wird man das auch in Indien wissen und Sie kennen. Unterschätzt werden darf dabei auch nicht, dass die indischen Unternehmen sehr wohl verstehen, sich auf Kleinserien zu konzentrieren oder einzelne gute Produkte herzustellen.
Das mag dann vielleicht noch nicht auf das gesamte Portfolio des Unternehmens zutreffen, aber es kann durchaus sein, dass das Unternehmen einen bestimmten Pumpen- oder Ventiltyp gut bauen kann, dass Keramikware in akzeptabler Qualität hergestellt wird oder dass man durch die zunehmende Präsenz europäischer Marken auch versucht, europäisches Design nachzubauen