Ungarn positioniert sich für die automobile Zukunft. Prof. László Palkovics, dort als Minister für Forschung und die Hochschulen zuständig und zuvor lange bei Knorr Bremse für F&E, im Interview über die Rolle, die das Land künftig in der internationalen Automobilproduktion einnehmen will.
Wie positioniert sich Ungarn in der globalen Automobilindustrie?
Es ist gut, die industrielle Geschichte Ungarns ein bisschen zu kennen. Wir haben immer eine relativ starke Autoindustrie gehabt, im Comecon hatten wir die Aufgabe, Busse und Trucks herzustellen. Ikarus-Busse waren unser Flaggschiff. Diese früher gut funktionierende Industrie ist in den 90er Jahren praktisch kollabiert. Aber auf ihren Ruinen entstand eine neue Autoindustrie. Anfang der 90er Jahre sind viele – vor allem deutsche, aber nicht nur deutsche – Firmen nach Ungarn gekommen, um eine Produktion aufzubauen. Es gab ja viele Arbeitskräfte mit einfacher, aber guter Ausbildung. Es gab eine positives Umfeld für Investitionen. Das war aber auch in den anderen Ländern der V4-Gruppe so.
Wir haben miterlebt, wie die multinationalen Firmen nach China gegangen und zurückgekommen sind und gesagt haben, sie könnten die ganze Lieferkette in Mittel- und Osteuropa viel besser optimieren als in China, also hier die Produktion ausweiten. Ergebnis dieser Entwicklung: Diese V4-Länder haben heute eine gut funktionierende multinationale, aber keine lokale Autoindustrie. Die Zulieferer der V4-Ländern sind in der Regel kleine und mittelständische Unternehmen, die sich sehr stark auf die multinationalen Firmen als Kunden ausgerichtet haben. Die Preise sind ok, die Qualität ist auch sehr gut, auch die Logistik klappt ohne Probleme. Die lokalen Unternehmen, meist in der ersten Generation, machen so zwar die Produktion für ihre Kunden, aber weitgehend ohne eigene Intellectual Properties. Keine eigenen Produkte zu haben, das macht abhängig. Eine stärkere unternehmerische Denkweise – das sollte meiner Meinung nach darum die nächste Stufe sein.
Was aber sehr positiv war, ist, dass ab Mitte der 90er Jahre mehr und mehr Firmen anfingen, Forschung und Entwicklung in Ungarn aufzubauen. Ich hatte Glück und konnte nicht nur für meinen Arbeitgeber Knorr-Bremse an diesem Prozess teilnehmen, sondern auch als Professor an der Universität. Das war eine wirklich spannende Zeit, als Knorr Bremse und andere wie ThyssenKrupp, Bosch, Continental, Audi anfingen, eine hochwertige Entwicklung in Ungarn aufzubauen. Es ging darum, nicht mehr diese verlängerte Werkbank zu bleiben, sondern genauso hochwertige Aktivitäten wie in Stuttgart oder München aufzubauen. So erarbeiten wir uns eine neue Position in der globalen Autoindustrie in der Fertigung, von den OEMs bis in unterschiedliche Tier-Ebenen. Ungarn will ein Innovationshub für die Automobilindustrie sein. Dafür haben wir alle Fähigkeiten im Land.
Jetzt gibt es in der Automobilindustrie erkennbare Umbrüche mit Elektromobilität, autonomem Fahren, Vernetzung von Fahrzeugen, Industrie 4.0 – wie positioniert sich Ungarn in diesen Feldern?
Wir sind bei dieser Entwicklung überhaupt nicht hintendran, sondern ganz vorne mit dabei. Und das hat Tradition. Ich erinnere an Professor Michelberger, den früheren Chefkonstrukteur bei Ikarus. Er hatte als Ingenieur die ungarische Fahrzeugproduktion über lange Jahre inspiriert und war schon Mitte der 80er Jahre der Meinung, dass neben den Bussen der nächste Trend zu antizipieren sei – nämlich die Elektronik im Auto, also regelbare Systeme wie die Radaufhängung, die Bremse oder die Vierradlenkung. Er trieb die akademische Umgebung in Ungarn, die Universitäten und Forschungsinstitute an, damit wir uns hier positionieren. Der erste Artikel über eine aktive Radaufhängung wurde ‘84 geschrieben. Damals war ich noch Student an der Uni und habe auch meine Doktorarbeit über aktive und semiaktive Radaufhängung geschrieben. Das haben wir weitergeführt und es kamen die ersten Idee für ESP. Kollegen von Lehrstühlen in Deutschland, die um 1994 hierherkamen, sagten, in Ungarn über ESP zu sprechen, sei wie Wasser ins Meer zu tragen. Wir hatten auch Patente, was nicht jeder geglaubt habt – außer die Leute von Knorr Bremse, die dann entschieden haben, ab ‘94 hier Entwicklung aufzubauen. Heute haben sie über 500 Ingenieure in Ungarn. Bei ThyssenKrupp arbeiten auch fast 1000 Ingenieure für Elektrolenkung und autonome Fahrzeuge. Das ist eine starke Entwicklung hier.
Wenn ein großer schwäbischer Hersteller heute entscheiden muss, ob er ein Projekt für autonome Fahrzeuge in Palo Alto oder in Stuttgart oder in Budapest starten soll, kann er sich mit gutem Grund für Budapest entscheiden. Wir haben unsere Expertise für automatisierte Fahrzeuge auch bei Projekten im kalifornischen San Diego eingebracht. Wir dürfen natürlich nicht auf unseren bisherigen Ergebnissen sitzen bleiben, sondern müssen uns weiterentwickeln. Deswegen haben wir Forschungsprojekte und Ausbildungsprogramme mit Masterstudien auf Englisch zum autonomen Fahren gestartet.
Zum Thema Unternehmergeist: Welche Rolle spielen denn Start-Ups als Brücke von der Universität in die industrielle Praxis?
Das ist noch nicht stark in Ungarn. Und das liegt daran, dass sich die ungarische Industrieentwicklung an den multinationalen Firmen ausgerichtet hat. Für eine multinationale Firma zu arbeiten, entweder als Mitarbeiter oder als kleiner Zulieferer, das ist noch immer sicherer, als ein eigenes Business zu gründen. Studenten an der Uni sagen sich: “Ich kann bei Bosch oder Continental in Ungarn arbeiten und hochwertige Ingenieursarbeit leisten, warum also soll ich mit einer eigenen Firma ein Risiko eingehen?” So war die Szene sehr schwach bisher. Jetzt aber kommt eine neue Generation, mit einer anderen Mentalität. Ich habe mir Israel angesehen, das eine ähnliche Größe und Struktur wie Ungarn hat. Israel hat keine dieser ganz typischen großen multinationalen Investoren, sondern setzt auf eigene Firmen. Ich wollte verstehen, warum sie dabei so erfolgreich sind. Das ist eine Frage der Mentalität. Wenn von 100 Start-Ups nur 20 in Israel bleiben, dann gilt das schon als Erfolg, auch wenn 80 aufgeben oder verkauft werden. Sie haben keine Angst, als Staat oder Universität so etwas zu finanzieren. Wir fördern jetzt in Ungarn in allen unseren neuen Forschungs- oder Universitätsprogrammen diese Startup-Mentalität. An der Uni Szeged finanzieren wir Gründungen durch Informatiker. Und wenn da was schief geht, gibt es trotzdem einen positiven Lerneffekt.
Trotz alledem könnten wir ein bisschen schneller sein. Wenn Sie unseren Nachbarn Slowenien anschauen, ein kleineres Land mit 2 Millionen Einwohnern und ganz wenigen multinationalen Unternehmen. Dort sind die Cluster der kleinen und mittelständischen Unternehmen der Automobilindustrie stark, sie haben eigene Produkte.
Will Ungarn mit entsprechenden Programmen auch für kleine und mittlere Unternehmen und sogar Start-Ups aus Deutschland attraktiv werden, die ja auch alle Ressourcen und Leute suchen?
Ja, absolut. Ich denke, die Autowelt wird in 10 Jahren nicht mehr so aussehen wie heute. Das Fahrzeug an sich wird wahrscheinlich weniger wichtig sein als die ganze Organisation, das Netzwerk der Fahrzeuge. Wie wir unsere Autos nutzen, das wird die zentrale Frage sein. Ich denke, in diesem Gebiet sind kleinere Firmen viel schneller und haben bessere Chancen als die Großen. Horvath & Partner haben mir berichtet, wie sie für einen großen Autohersteller in Deutschland datenbasierte Auswertungen machen. Hier gibt es neue Businessmodelle, die von kleinen Firmen viel besser übernommen werden können. Da sehe ich schon Chancen.
Arbeitsmarkt, Lohnentwicklung und praxisorientierte Ausbildung in Ungarn. Welche Entwicklungen sehen Sie hier?
Es ist so, dass die Arbeitslöhne steigen. Wenn die Effizienz schneller steigt als die Arbeitslöhne, ist das auch in Ordnung. Die Löhne müssen aber auch steigen. Denn in Mitteleuropa sind die ungarischen Durchschnittslöhne die niedrigsten und die ungarische Arbeitskraft ist nicht weniger effizient. Für Firmen ist das Investition, nichts Ungewöhnliches.
Das gilt auch für das Verhältnis der Industrie zu den Universitäten. War es in den 70er Jahren nicht genauso in Deutschland? Damals bemängelten die Unternehmen, dass die Theorie an den Unis zwar gut sei, aber Praxisorientierung fehle. Sie fingen an, zu investieren und mit den Universitäten zusammenzuarbeiten. Es kam zu Lösungen wie den dualen Hochschulen in Baden-Württemberg. Was sich die deutschen Firmen ausgedacht haben, haben sie auch in den Universitäten eingebracht. Exakt das passiert jetzt in Ungarn. Seit 2014 haben wir auch die dualen Hochschulen und kooperieren mit Baden-Württemberg. Daimler hat diese Kultur nach Kecskemet gebracht. Dort haben wir das erste Pilotprojekt aufgebaut, das jetzt auf das Land ausgeweitet wird. Wir haben schon nach zwei Jahren über 1000 Studenten in der dualen Ausbildung, über 600 Firmen sind dort engagiert, das funktioniert sehr gut. Die Firmen müssen hier natürlich auch einiges leisten, aber das tun sie auch. Ich war gestern in Szombathely, da ist auch eine sehr starke Automobilindustrie vertreten mit Opel, LuK und anderen. Dort haben wir vor drei Jahren einen neuen Studiengang für Maschinenbau-Ingenieure gestartet. Das funktioniert hervorragend, wenn die Firmen, die lokale Gesellschaft, die Regierung und die Universitäten das zusammen anpacken.
Thema Brain Drain: Universitäten halten und steigern die hohe Qualität der Ausbildung, Absolventen sind auf jedem Arbeitsmarkt der Welt gefragt, nicht nur in Ungarn…
Da gibt es kein einheitliches Bild. Wenn die Konditionen finanziell stimmen, Weiterentwicklung möglich ist und die Arbeitsumgebung positiv ist, dann gehen die ungarischen Ingenieure nicht nach Deutschland oder ins Ausland. Nehmen sie Knorr-Bremse. Die Fluktuation im Entwicklungsbereich ist sehr klein. Bis vor drei Jahren lag die Fluktuation bei zwei bis drei Prozent und auch diese Fluktuation blieb innerhalb der Firma und in Richtung der Standorte Deutschland, Amerika oder Indien. Natürlich investiert die ungarische Gesellschaft in die Ausbildung, also in die Arztausbildung, Zahnarzt- ausbildung oder Ingenieursausbildung. Hier studieren die Studenten gratis, das wird durch Steuern finanziert. Wer von der Gesellschaft finanziert wurde, sollte an sie auch etwas zurückgeben.