Für die neuen Autoländer im Osten sind Richtungsentscheidungen in der deutschen Automobilwirtschaft von ziemlicher Tragweite. Das stiftet europaweit eine gemeinsame Perspektive.
Google liefert am 3. Oktober den Einstieg in diesen Reisebeitrag. VW und Trabi im Doodle als fröhliches deutsches Einheitstandem. Wie einheitsstiftend die deutsche Automobilwirtschaft ist – und zwar in ganz Europa, ist hier das Thema. Nach den Bundestagswahlen und dem elektrischen Schaulaufen der deutschen Marken auf der Frankfurter IAA geht der Blick dabei nach Mittel- und Osteuropa, und noch etwas spezieller nach Ungarn.
Die gesamte Region hat sich still und leise, nur kurz gebremst von der Krise 2008/9, zu einem der wichtigsten Kettenglieder in der global ausgelegten Wertschöpfung der Automobilhersteller – und in ihrem Gefolge der internationalen Zulieferindustrie – entwickelt.
Jahrelang galt das öffentliche Interesse in Deutschland fast ausschließlich der Elektromobilität. Einige ihrer “Gretchenfragen” sind noch nicht so ganz beantwortet. So wie die nach der Energiequelle, die Willi Diez einst in unserem Magazin autoworld noch zur IAA 2009 stellte. Der Strom kommt aus der Steckdose – dem Endstück einer gewaltig großen Lade-Infrastruktur, die zumindest in Deutschland in Angriff genommen wird. “Wir schaffen das” – versichern die neuerdings krawattenlosen Automobil-CEOs in den Runden mit Kanzlerin und grünem Ministerpräsidenten, während sie weltweit mit immer neuen SUV-Modellvarianten Rekordbilanzen einfahren. Regelrecht fossil wirken dagegen ehemalige Vorstandsvorsitzende großer Zulieferer oder Entwicklungsingenieure, die nur noch im kleinen und privaten Kreis Zweifel am technischen Sinn (“Wieso eigentlich Energie in Batterien pressen?”) und an der globalen Wirtschaftlichkeit der Elektromobilität äußern.
Willi Diez hatte zurecht über den Gartenzaun des damals noch nicht einmal energiegewendeten Deutschlands hinausgeschaut. Ein wenig Zahlenwerk zur Erinnerung: Als Diez das 2009 schrieb, rollten noch rund 48 neue Millionen Pkw aus den Werkshallen der Welt. 2016 sind dies 73 Millionen neue Pkw, dazu kommen noch 22 Millionen neue Nutzfahrzeuge.
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Erst mit der Diskussion um den Diesel und dem eingeforderten “raschen Ende des Verbrennungsmotors” rückt die “industrielle Basis” wieder in Erinnerung – der Beitrag der bisherigen automobilen Wertschöpfung zur Weltwirtschaft insgesamt und für die einzelnen Volkswirtschaften. Plötzlich wird “Diversifizerung” wieder zum Zauberwort, und zwar nicht nur in den Schreibstuben der Wirtschaftsministerien. Ob jetzt auch – wie die langen Jahre vor 2009 – “Dienstleistungen”, diesmal nur von Start-ups getunt, als Königsweg aus der “Abhängigkeit” vom wichtigsten industriellen Produktionszweig überhaupt gesehen werden ?
Europäische Gemeinsamkeiten
Die globalen Statistiken ergeben ein überraschend klares Bild der Gemeinsamkeiten, die die östlichen Nachbarn in der Zwischenzeit mit Deutschland erreicht haben: Alle sind davon abhängig, die erreichte Position in der grenzüberschreitenden Wertschöpfungskette Automobil nicht zu verlieren, wenn sie nicht auch Beschäftigung und den Kern ihrer industriellen Kompetenz gefährden wollen. Und alle strengen sich deshalb nach satten Jahren des Wachstums schwer an, immer neue Ingenieure für die Entwicklungsabteilungen und mehr Facharbeiter für die hochmodernen Werke hervorzubringen, bzw. zu finden und zu binden.
Die Export- und Produktionsstatistiken, die der VDA veröffentlicht, machen die Rolle Europas und der zentraleuropäischen Standorte für die deutschen Hersteller sehr deutlich. China hat darin übrigens mittlerweile eine solches Gewicht als Markt und Produktionsstandort gewonnen, dass nun nicht ein stark wachsendes Europa heftige Schwankungen in Fernost kompensieren könnte.
Diese Relationen erklären umgekehrt, warum die neuen Autoländer im Osten Europas sehr genau die verkehrs- und klimapolitischen Diskussionen in der EU und in Deutschland verfolgen. Mögliche Richtungsentscheidungen in Brüssel und in den Vorstandsetagen der hiesigen OEM haben direkte Folgen für Mittel- und Osteuropa.
Beim Heimspiel der deutschen Autoindustrie in Frankfurt haben die neuen Autoländer darum Flagge gezeigt. Getan haben sie das nun nicht mehr jeder für sich. Noch vor zwei Jahren hatte sich die Slowakei auf der IAA stolz präsentiert – mit ihrem speziellen automobilen Weltrekord, der höchsten Zahl von produzierten Autos pro Einwohner und einer dezidierten Politik Richtung Industrie 4.0, mit einer entsprechenden Ausrichtung der Hochschulen.
2017 aber war “V4 connects” zu Gast beim VDA. Wer das im Westen Europas immer noch nicht ganz so einordnen kann: Das V kommt von Visegrád – der kleinen ungarischen Donaustadt, bei dem vier EU-Mitglieder zur Formulierung einer eigenständigen und gemeinsamen europapolitischen Linie übereinkamen. “V4 connects” – das ist jetzt das neue und gemeinsame Branding Polens, der Slowakei, Tschechiens und Ungarns, auch in Sachen Standortmarketing und Industriepolitik.
István Lepsényi, Wirtschaftsminister Ungarns, das in der V4-Gruppe 2017 die Präsidentschaft hat, nannte auf der IAA die Marke von 20 Prozent, die die die herkömmliche Automobilindustrie zum Bruttosozialprodukt dieser Länder im Schnitt beitrage. Mit 1,7 Millionen hergestellten Fahrzeugen tragen die vier Länder rund 16 Prozent der Produktion der deutschen Hersteller. Mit rund 3,5 Millionen Fahrzeugen haben sie auch ihren Anteil an der Weltproduktion hochgeschraubt.
In Frankfurt haben die stark durch internationale OEM und Zulieferer geprägten Verbände der Automobilindustrie der V4-Länder eine gemeinsame Resolution verkündet: Eine ausschließlich auf das Elektroauto ausgerichtete Verkehrs-, Forschungs- und Infrastrukturpolitik übersehe das Potential zu Innovation und Nachhaltigkeit bei Verbrennungsmotoren. Minister und Autoverbände in den V4 sprachen sich unisono gegen verordnete Quoten für bestimmte Antriebsarten aus. Verbrennungsmotoren seien “auf viele Jahre hin auch künftig dominant” – besonders außerhalb von Deutschland. Der Anteil von Elektrofahrzeugen liegt in Tschechien, Polen und der Slowakei jeweils bei ganzen 0,1 Prozent, in Italien bei 0,2, Spanien bei 0,3 und in Ungarn bei 0,4 Prozent.
“Forscher und Entwicklungsingenieure bei Herstellern, Zulieferern und an den Universitäten sollen darum auch die Verbrennungsmotoren und die Energieffizienz der Komponenten verbessern,” formulierte Juray Sinay, der wortgewaltige Präsident des slowakischen Verbands und lange Jahre Wuppertaler Professor und Rektor der TU in Kosice. Er brach auch eine Lanze für die Brennstoffzelle, bei dem seine heimische Universität ganz im Osten der Slowakei ein Modellprojekt fährt.
Beim VDA scheint diese Positionierung einen Nerv getroffen zu haben. Das war nicht nur an der Anwesenheit von Matthias Wissmann zu erkennen, der eigens zur Veranstaltung herbei eilte. Auch Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts, stellt in diesem europäischen Kontext seine Studie über die möglichen Auswirkungen einer Abkehr vom Verbrennungsmotor vor: mehr als 600 000 Arbeitsplätze, 130 000 davon bei mittelständischen Unternehmen wären laut der Studie berührt. Wohlgemerkt nur in Deutschland. Eine Studie, wie weit zumindest im After-Sales-Bereich die Wartung der Auto-Elektrik für eine teilweise Kompensation sorgen könnte, hat Willi Diez im Umfeld der IAA präsentiert.
Die zentraleuropäischen Länder wollen erklärtermaßen keine verlängerte Werkbank für die Hersteller aus Deutschland sein. Erst recht nicht für eine Produktion, die eventuell auf dem Spiel steht. Bei der neuen elektrischen Wertschöpfung eventuell den Kürzeren ziehen, das ist für die Wirtschaftspolitiker und lokalen Automanager ein Alptraum: Immerhin steckt ihnen der nahezu vollständige Zusammenbruch zuvor blühender Industrien noch in den Knochen. Mit den immer neuen Weltklassefabriken der deutschen und internationalen Hersteller und ihrer Zulieferer hatten sie – auch ohne “Soli” – in den letzten zehn oder 15 Jahren erst eine industrielle Basis, stabile Beschäftigung, dann in den letzten Jahren über den massiven Reexport von Fahrzeugen und Teilen wieder Wachstumsraten geschafft, die sich in der Zwischenzeit im Fachkräftemangel niederschlagen.
Ziel: “Hochwertige Arbeit wie in Stuttgart oder München”
Aber gegen diesen will zumindest Ungarn etwas tun. Szenewechsel: Budapest, Ministerium für die Universitäten. In einem kleinen Zimmer residiert Prof. László Palkovics, der jetzt als Minister für Zehntausende Mitarbeiter im Bildungssektor des Landes zuständig ist. Ministerpräsident Orban hat ihn bei Knorr-Bremse losgeeist, wo Palkovics jahrelang die Forschung und Entwicklung geleitet hat. Palkovics, der meine E-Mails an ihn stets persönlich und jeweils nach wenigen Stunden beantwortet, hat eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie er Ungarn in der nun möglicherweise anstehenden neuen automobilen Arbeitsteilung positionieren will: Nämlich ganz vorne – und arbeitsteilig auch in die Entwicklung der neuen Mobilität eingebunden. “Wir wollen hier genauso hochwertige Aktivitäten wie in Stuttgart oder München aufbauen. Ungarn will ein Innovationshub für die Automobilindustrie sein. Dafür haben wir alle Fähigkeiten im Land.”
Diesem Anspruch stehen auch einige Erfolge gegenüber – und das nicht erst in den letzten Jahren. Knorr-Bremse, Palkovics ehemaliger Arbeitgeber, und Continental haben schon länger relevante Entwicklungsaktivitäten in Ungarn. Palkovics erinnert nicht ohne Stolz, wie die Unternehmen schon in den 90er Jahren nahtlos an Forscherleistungen im Bereich der Fahrzeugelektronik anknüpfen konnten. Neuestes Flaggschiff: Bosch hat ein interdisziplinäres Entwicklungszentrum für Mobility Solutions in Budapest auf nahezu 2000 Mitarbeiter aufgestockt. Großes persönliches Engagement zeigt Palkovics auch bei einer Teststrecke für das autonome und vernetzte Fahren, mit dem sich Ungarn eine Pole Position erobern will.
Wieder ein Szenewechsel. Auf die Sekunde pünktlich kommt mein Zug aus Budapest auf dem Bahnhof Kecskemét an. Im Süden der Stadt breitet sich auf einer riesigen Fläche das Daimler-Werk aus. Auf den Parkplätzen stehen zahlreiche Mitarbeiter-Fahrzeuge mit Rastatter und Böblinger Kfz-Kennzeichen. Am Empfang erinnern die zahlreichen Merchandising-Vitrinen fast an das Stuttgarter Museum des Konzerns. Im zweiten Werk, das soeben entsteht und in das Daimler mehr als eine Milliarde investiert, sollen zusätzlich zu den fast 4000 Mitarbeitern weitere 3000 dazukommen. Daimler engagiert sich in Ungarn darum massiv in der beruflichen Bildung, darüber ist noch einmal im Detail zu berichten. Die höchstens 15 oder 16 Jahre jungen Auszubildenden in ihren roten T-Shirts unterscheiden sich schon ein wenig von den Mechatronik-Azubis mit Abitur und ihren 19 oder 20 Jahren, mit denen ich neulich in der VW-Stadt Hannover gesprochen habe. Wie wichtig Ungarn die duale Ausbildung ist, ist auch an der Anzahl und dem Rang der Delegationen zu erkennen, die sich zu Einweihung und Besichtigung eines neuen Ausbildunsgzentrums in Kecskemet angemeldet haben.
Audi, Bosch und Daimler, die alle in Ungarn große Investitionen getätigt haben und zu den wichtigsten industriellen Arbeitgebern des Landes zählen, haben neben den betrieblichen Aktivitäten im Bereich der dualen Ausbildung auch die Zusammenarbeit mit den Hochschulen bei dualen Studiengängen erheblich erweitert. Beim ersten Symposium zu diesem Thema, das wir in der nächsten Woche auf der Automobilmesse in Budapest diskutieren werden, werden die Personalstrategien der Unternehmen für die ganze Region im Mittelpunkt stehen. Und hier gibt es ja an der ungarischen Grenze zum V4-Nachbarn Slowakei eine durchaus heftige Konkurrenz um Fachkräfte. Jaguar fischt für sein neues Werk im Süden der Slowakei gezielt auch in Ungarn. Für mittelständische Zulieferer, die in der Grenzregion zum Auto-Speckgürtel von Bratislava und Györ mit dem regional vorgelegten Wachstumstempo der Hersteller mithalten müssen und wollen, schafft dies durchaus echte Probleme.
Die gesteht auch der dritte Minister Ungarns ein, den ich innerhalb von zwei Wochen zum Thema höre. Es ist Péter Szijjártó, der smarte junge Außenminister, der als wohl einziger seiner EU-Kollegen sein Ministerium ganz stark auf den Außenhandel und die Investitionsförderung zugeschnitten hat. Szijjártó ist es auch, der die Beziehung in die automobilen Vorstandsetagen in der Welt pflegt. In Stuttgart, wo er eigens ein Generalkonsulat eingerichtet hat, hört er sich nach der IAA in kleiner Runde geduldig die mittelständischen Unternehmen an, die ihm berichten, wie eng der Arbeitsmarkt für sie in Ungarn geworden ist. Szijjártó verspricht direkte Unterstützung: Er werde sich persönlich um einen Gesprächstermin des Unternehmers mit zwei Bürgermeistern kleinerer Städte in der Nähe seiner Heimatstadt Györ bemühen. So soll eine Kooperation mit den örtlichen Oberschulen zustande kommen, rät er, bevor zu seinem Termin mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg aufbricht.
Für die Technologiepolitik, die Beschäftigungs- und die Bildungspolitik in Mittel- und Osteuropa ist, wie das ungarische Beispiel zeigt, ist die die immer noch wachsende Automobilindustrie der entscheidende Taktgeber. Welche Perspektiven sie in der grenzüberschreitenden europäischen Wertschöpfung entwickelt, bleibt für V4 und Ungarn eine elektrisierende Fragestellung.